Was und wie nehmen wir wahr, wenn wir ein Kunstwerk betrachten, ist eine zentrale Fragestellung im Schaffen von Sabine Gross. In ihren Arbeiten nähert sie sich mit Techniken wie Film, Sound, Licht oder Raum dem kreativen Schaffen und der Wahrnehmung von Kunstwerken. Besonders interessiert sie dabei die Tatsache, dass ein Kunstwerk aufgrund der Beschaffenheit der menschlichen Wahrnehmung immer auch ein subjektives Konstrukt darstellt, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Wie bei ihrer früheren Arbeit Das Gelbe Haus (Sternennacht), die erstmals 2004 im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen war, nimmt Gross dabei erneut Bezug auf bekannte Werke der Kunstgeschichte wie Der Schrei von Edvard Munch oder Happy Tears von Roy Lichtenstein. Die diesen Bildern innewohnende oder von ihnen in Szene gesetzte emotionale Expressivität übersteigert die Künstlerin durch am Computer erstellte Animationen, deren Bestandteile sich zu verselbständigen beginnen. Hierdurch wird die ursprüngliche Rezeption des Werks verändert, ein Prozess, durch den Gross mit habitualisierten Wahrnehmungsmustern bricht und einen frischen Blick auf das Bild ermöglicht. 

Neben den Videoarbeiten zeugen auch die plastischen Werke von einem gesteigerten Interesse am Hinterfragen und Durchdringen von Oberflächen, an der Auflösung von Strukturen, am Prozess der Zerstückelung bis zur kompletten Dekonstruktion. Damit verbindet sich unter anderem Gross´ Auseinandersetzung mit dem Wert-Status eines Kunstwerks. Inwieweit ist dieses als Endprodukt zu begreifen, und welchen Eigenwert hat seine spielerische Fortschreibung und Weiterbearbeitung jenseits von mittlerweile selbst historisch gewordenen Strategien wie Provokation oder Tabubruch?

In diesem Zusammenhang ist vor allem das Werk Ciao, Lucio zu nennen, das ironisch auf Lucio Fontana Bezug nimmt. Hier treibt Gross das augenzwinkernde Vexierspiel auf die Spitze, indem sie Fontanas berühmte Leinwand-Einschnitte nicht de-, sondern rekonstruiert. Der Schnitt ist kein Schnitt mehr, sondern ein mehrfach gebrochenes (Ab-)Bild desselben. Das Absurde, das diesem kreativen Akt innewohnt, wird hier zu einem ästhetischen Vehikel des Komischen, das die Betrachter einmal mehr mit der immer wieder neu zu beantwortenden Frage konfrontiert: Wie real ist ein Bild?

Nach zahlreichen Einzelpräsentationen und der Beteiligung an großen Überblicksausstellungen wie Magie der Zahl (Staatsgalerie Stuttgart), Deep Storage (Haus der Kunst München, Neue Nationalgalerie Berlin, Kunstmuseum Düsseldorf, PS 1 New York), Ich ist etwas Anderes (Kunstsammlung Nordrhein Westfalen), The Big Nothing (Kunsthalle Baden-Baden) und ein/räumen in der Hamburger Kunsthalle ist die Künstlerin derzeit unter anderem in der von Michael Glasmeier kuratierten Wanderausstellung 50 Jahre documenta - archive in motion vertreten, die dieses Jahr in Brüssel, Salamanca und Warschau sowie 2007 in Südostasien und Neuseeland zu sehen sein wird.